In New York wird über ein Meeresschutzabkommen verhandelt. Dass es zustande kommt, ist wichtig: Der Ozean nimmt 93 Prozent der menschengemachten Erwärmung auf und liefert die Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen, sagt Meeresbiologin Antje Boetius.

In New York wird gerade über ein Abkommen zum Schutz der Hohen See verhandelt. Dabei geht es um den größten Lebensraum der Erde, der noch fast völlig unerforscht ist. Die Meeresbiologin Antje Boetius, die das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven leitet, erklärt, worauf es bei dem Abkommen ankommt – und warum Wissenschaftler seine Ausarbeitung auch mit Sorge verfolgen.

Frau Boetius, seit mehr als einem Jahrzehnt wird immer wieder darüber verhandelt, die Hohe See besser zu schützen. Warum ist das so schwierig?

Wir sprechen bei der Hohen See über einen riesigen Bereich der Erdoberfläche, ungefähr 60 Prozent. Es ist der Bereich des Ozeans jenseits der sogenannten 200-Meilen-Zone, also vor allem Tiefsee. 1982 wurde dieses gemeinsame Erbe der Menschheit dem Seerechtsübereinkommen UNCLOS unterstellt und eine Meeresbodenbehörde auf Jamaika geschaffen, die den Zugang zu mineralischen Rohstoffen regelt. Jetzt soll auch das ozeanische Leben mit Regeln geschützt und der Zugriff reguliert werden. Daher heißt der Prozess um das zusätzliche Seerechtsübereinkommen „Biodiversität jenseits staatlicher Rechtsprechung“ (BBNJ, Biodiversity Beyond National Jurisdiction). Das ist eine der komplexesten Völkerrechtsverhandlungen, die es je gab.

Aber es gibt doch bereits einige Regelungen für die Hohe See, ein ganz rechtsfreier Raum ist es nicht.

Ja und nein. Es gibt das Seerecht, welches aber mit dem Fokus auf den Abbau mineralischer Wertstoffe geschaffen wurde. Es gibt auch die Regeln der Internationalen Maritimen Organisation (IMO) der Vereinten Nationen, wo es vor allem um sichere und saubere Schifffahrt geht. Aber das Leben in den Ozeanen ist bisher durch das Raster gefallen. Immerhin 90 Prozent der belebten Sphäre befinden sich hier, Millionen unbekannter Arten, die größte genetische Ressource des Planeten Erde. Ein Fokus der Verhandlungen ist, allen Staaten einen fairen und nachhaltigen Zugang zu sichern, aber gleichzeitig auch das Leben zu schützen.

Wie ließe sich schnell eine Verbesserung erzielen?

Es sind große Probleme, die unser gesamtes Leben betreffen und deren Lösung in der Transformation unseres Umgangs mit Ressourcen durch die Staatengemeinschaft entlang der Nachhaltigkeitsziele liegen. Es geht um Alternativen zu CO2-Emissionen, Stickstoff-Überdüngung und Nutzung nicht abbaubarer Kunststoffe. Illegale Fischerei muss durch Regeln und Kontrollen, aber auch besseres Auskommen von Fischern verhindert werden. Das Hochseeschutzabkommen BBNJ ist für diese Lösungen nicht direkt zuständig. Aber für den Rahmen von Schutzgebieten auf Hoher See und für das Raummanagement überhaupt, denn alle Eingriffe müssten gemeldet werden.

In den vergangenen Jahren ist es in Mode gekommen, Lebensräume nach ihren Ökosystemdienstleistungen zu bewerten. Was bieten die Ozeane?

Der Ozean nimmt 93 Prozent der menschengemachten Erwärmung auf, 25 Prozent des emittierten CO2, er liefert die Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen, er stellt eine wichtige Nahrungsgrundlage für Milliarden Menschen. Vor allem aber ist er das Zuhause der größten genetischen Ressource des Universums. Darin steckt ein enormes Potential für die Zukunft. Nicht nur ist der Schutz der Lebensvielfalt der Erde an sich schon ein Menschheitsziel, es ist auch zu erwarten, dass wir von den Meeresorganismen noch viel wichtige Biotechnologien abschauen können. Sie haben Tricks, älter zu werden als anderes Leben, sie können mit weniger Energie und in Symbiose mit anderen Organismen leben. Zu den Wertschöpfungen gehören jetzt schon verschiedene bioaktive Stoffe, die in der Krebsmedizin oder als Ersatz von Antibiotika sowie gegen Zellalterung wichtig sind. Enzyme von Meereslebewesen werden in der Lebensmittel- und Energie-Industrie eingesetzt. Die genetische Vielfalt in der Hohen See birgt so viele Lösungen! Mit der Forschung sind wir ganz am Anfang, wir haben ja noch nicht einmal ein Promill des Lebensraumes erforscht.

Im Hochseeabkommen soll geschützt werden, was man nicht kennt?

Ja, die Staaten müssen diesen Lebensraum, diese Ressourcen, auch für künftige Generationen schützen. Sonst verlieren sie ja Gut, auch wenn diese Gene, Arten und Ressourcen heute nicht genau bekannt sind.

Ein großer Streitpunkt ist die globale Gerechtigkeit. Warum?

Es ist nun mal so, dass die Tiefsee nur von solchen Staaten erkundet werden kann, die Forschungsschiffe, Unterwassertechnologien und Meeresforschung haben. Die meisten Organismen überleben gar nicht in einem normalen Labor – Zugang haben also nur die Industrienationen. Die Entwicklungsländer beklagen, dass sie durch Kolonialismus und Ausbeutung bis heute nicht in der Lage sind, sich an der Erforschung der Meere zu beteiligen. So könnten die Industrienationen allein sich zum Beispiel Gensequenzen patentieren und Gewinne machen. Die Hohe See ist aber ein gemeinsames Erbe der Menschheit, und entsprechend sollen laut dem Seerechtsübereinkommen UNCLOS alle Nationen gleichermaßen daran teilhaben.

Das Nagoya-Protokoll regelt die gerechte Nutzung biologischer Vielfalt an Land. Könnte man das nicht als Vorbild nehmen?

Das Nagoya-Protokoll regelt seit 2014 den Zugang und die Nutzung genetischer Ressourcen an Land für die Herkunftsländer. Die können über Nagoya mit anderen Ländern Verträge schließen. Aber die Hohe See ist ja eben das gemeinsame Menschheitserbe, es gehört keinem Land. Also braucht es andere Lösungen, für die erst mal Strukturen aufgebaut werden müssen. Das macht uns auch Sorgen in der Forschung. Auch wenn die Regelungen zu mehr Gerechtigkeit führen sollen, es hat für uns Wissenschaftler die Erforschung der Natur viel bürokratischer gemacht. Es müssen so viele Anträge geschrieben werden, manchmal dauert es Monate, bis man eine Genehmigung für die Probennahme während einer Forschungsfahrt bekommt. Aus Sicht der Wissenschaft muss in New York eine Regelung gefunden werden, die den Lebensraum schützt und die Grundlagenforschung nicht behindert, sondern fördert. Aber alleine zu definieren, wo Grundlagenforschung aufhört und industrielle Exploration beginnt, ist alles andere als trivial.

Man könnte sich darauf einigen, dass Wissenschaftler unbekannte Organismen erforschen dürfen, wenn sie die genetischen Daten frei verfügbar für alle in eine globale, frei zugängliche Datenbank stellen.

Das wäre die von der Wissenschaft präferierte Lösung. Aber sie geht nur dann auf, wenn auch andere Länder den Zugang zur Forschung und Wissen sichern können und wenn dahinter auch das Patentrecht und die Verwertung besser geregelt ist. Die Frage ist also: Wie teilt man das Wissen um die Natur fair – wie stärkt man die Kapazitäten insgesamt für Forschung, Beobachtung und auch Überwachung auf Hoher See?

Was ist der effizienteste Meeresschutz?

Die Regulation der Fischerei ist eine der wichtigsten Stellschrauben. Vor allem die illegale Fischerei in der Hohen See hat schon große Schäden angerichtet. Seeberge, besonders empfindliche und artenreiche Ökosysteme, müssen vom Fischfang ausgenommen werden. Und der Einsatz von Schleppnetzen muss stark reguliert werden, da sie den Meeresboden und damit ganze Ökosysteme nachhaltig schädigen. Diese Regulierungen müssen Hand in Hand mit einem globalen Überwachungssystem für diese Schutzgebiete gehen, sowie für die Anlandung von und Handel mit Meerestieren, sonst schützen sie nicht ausreichend.

Was ist die andere Stellschraube?

Die Eindämmung der Erderwärmung. Die Klimakrise verändert die Lebensräume im Ozean schon jetzt massiv. Die Erwärmung der oberen Meeresschichten, die Verschmutzung hat auch in der Tiefe Konsequenzen für die Artenzusammensetzung. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, denn es muss für den Schutz eine Art Basis für den guten Zustand festgestellt werden – diese ist aber dynamisch. Ansonsten wird es schwierig Schäden, etwa durch Fischerei, Tiefseebergbau, Unfälle zu dokumentieren. Solche Umweltstudien sind teuer und schwierig, es wird noch diskutiert wer sie durchführen kann, und wer sie bezahlt.

Über welches Ergebnis der Verhandlungen würden Sie sich als Meeresbiologin freuen?

Es wäre erstmal wirklich toll, wenn dieses Abkommen in Kraft tritt, das den größten belebten Raum der Erde schützt, die meiste Vielfalt des Lebens. Wenn das auch dazu führt, dass wir mehr über die Tiefsee lernen. Zugleich muss dafür der Zugang zu diesen Lebensräumen für die Grundlagenforschung weiterhin möglich sein, sonst führt ein gut gemeinter Ansatz zum Verlust von Wissen und Schutzmaßnahmen.